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- Hilfe für blinde und sehbehinderte Kinder in Hamburg -


40 Jahre Frühförderung für blinde und sehbehinderte KInder in Hamburg

 


 

Die 1960er, 1970er und 1980er Jahre: Anfänge der Frühbetreuung 


Vorbemerkung: Mein Blick zurück auf die Anfänge der Frühförderung in Hamburg beruht auf Erzählungen von Kolleginnen aus den 60ern, auf eigenen Erfahrungen und denen meiner damaligen Mitstreiterinnen und Mitstreiter seit Beginn der 70er bis zur Institutionalisierung der Frühbetreuung Anfang der Achtziger, all das ohne Anspruch auf Vollständigkeit und absolute Unanfechtbarkeit.


Anfang der 1970er Jahre gab es noch keine eigenständigen Angebote für Frühbetreuung oder Frühförderung sehgeschädigter Kleinkinder in Hamburg. Einzig das „Sonderkindertagesheim für blinde und sehbehinderte Kinder“, in unmittelbarer Nähe der Blinden- und Sehbehindertenschule am Südring 22 gelegen, bot sehgeschädigten Kleinkindern im Alter ab 3 oder 4 Jahren Versorgung und spezielle Förderung - eine im Rückblick erstaunliche Errungenschaft für die damalige Zeit.

 

Meines Wissens gingen die ersten Bemühungen um Frühbetreuung primär von den Sorgen und Nöten derjenigen Familien aus, deren Kinder nicht „am Südring“ waren, also auch der Babies und der Kleinkinder bis 3 Jahre. Diese Familien waren mehr oder weniger auf sich gestellt, und viele suchten Hilfe, Beratung und Unterstützung. Betroffene Eltern wandten sich in ihrer Not oft an die Schule oder das o.a. Sonderkindertagesheim, oder es kamen dorthin Anfragen von anderer Seite, z.B. Gesundheitsamt, Landesarzt für Blinde und Sehbehinderte, Augen- und Kinderärzte, Behörden.

In den 60er Jahren bis Anfang der 70er haben nacheinander zwei engagierte Sonderschullehrerinnen im „Alleingang“ zusätzlich zu ihrer Arbeit an der Blinden- und Sehbehindertenschule Kontakt zu den ihnen bekannten Familien mit einem sehgeschädigten Kleinkind aufgenommen und versucht Hilfestellung zu leisten. Auch zu dieser Zeit waren schon vereinzelt Kinder mit Mehrfachbehinderung dabei. Man muss wissen, dass damals die Beschulung mehrfachbehinderter sehgeschädigter Kinder an der Blinden-und Sehbehindertenschule absolutes Neuland war. Als ich 1971 dort anfing zu arbeiten, gab es eine einzige sog. Sonderklasse für Kinder mit mehrfacher Behinderung.

Die allerersten Anfänge von Beratung und Unterstützung waren also ehrenamtliche Tätigkeiten, die diese beiden Kolleginnen irgendwann an die Grenzen des Machbaren führten, zumal der Einzugsbereich der zu versorgenden Kinder sich bald auf Schleswig-Holstein und Randbezirke von Niedersachsen ausweitete.
Anfang der 70er und in der Folgezeit fanden sich dann einige Lehrerinnen und Sozialpädagoginnen zusammen, die großes Interesse an den Belangen dieser mittlerweile ca. 40 Kinder hatten und bereit waren, die „altgedienten“ Kolleginnen, die sich der ständig steigenden Belastung nicht mehr gewachsen fühlten, abzulösen.

Wir hatten den Anspruch, die bislang bekannten Frühbetreuungsmaßnahmen zu überdenken, ggfls. zu ändern oder neu zu konzipieren. Und wieder schulterten wir sowohl die – von uns gewollten – Bemühungen um neue Konzepte als auch alle Belange der praktischen Durchführung „nebenbei“, d.h. nach dem Schulvormittag, der damals ca. 13.00 endete, und gingen auf die Reise in die zum Teil weit entfernten Wohnorte der Familien. Sehr selten gab es schon Kontakte zu Kindergärten oder Krippen oder Vollzeiteinrichtungen, weil die Kinder fast immer zu Hause lebten.

 


Unser Konzept einer ganzheitlichen Frühbetreuung

 
Im Zuge der „Nach-68iger“- Jahre wurden auch am Borgweg die herrschenden Auffassungen zu Zielen, Inhalten und Organisationsstrukturen der schulischen und außerschulischen sonderpädagogischen Angebote einer grundlegenden Sichtung unterzogen.


Sozialpädagogische Konzepte fanden endlich Eingang in die Schule, sie wurden insbesondere im damaligen Schulkindergarten, z.T. gegen anfängliche Widerstände, erfolgreich umgesetzt und öffneten den Blick für neue Bewertungen und Vorgehensweisen auch in der Frühbetreuung. Es gab sowohl an der Schule wie auch überregional durchaus Meinungsverschiedenheiten mit denjenigen Vertretern der „alten Schule“, die nach wie vor den Schwerpunkt der Frühbetreuungsmaßnahmen in der Vorbereitung auf die Schulzeit und die spätere Berufs- und Arbeitswelt sahen. Demgegenüber versuchte das nun wachsende neue Team, auf Basis der damals sich entwickelnden „ganzheitlichen“ Sichtweise neue konzeptuelle Schwerpunkte zu setzen.


Wir wollten weg von der „Arbeit am Kinde“, wie es damals oft hieß. Es konnte nicht der richtige Weg sein, mit vorgefertigten Förder- „Modulen“ einzelne Fähigkeiten und Fertigkeiten des Kindes zu entwickeln und zu versuchen, Defizite zu verringern oder zu kompensieren - und mit der geballten „Fachkompetenz“ im ungünstigsten Fall Verunsicherung und Spannungen in den Familien zu erzeugen.

Unser Blick richtete sich vielmehr auf die Gesamtsituation, d.h. auf das Kind, seine Eltern und Geschwister und das Beziehungsgeflecht in der Familie. Um dieser umfassenden Sichtweise schon in der Benennung Ausdruck zu verleihen, entschieden wir uns, den schon etablierten Begriff „Früh-Betreuung“ – in Abgrenzung zur „Früh-Förderung“ - beizubehalten, nun gefüllt mit veränderten Inhalten, unter dem Vorzeichen „Ganzheitlichkeit“.


 Was brauchen alle Beteiligten, woran können wir anknüpfen?

-  Wie ist die Persönlichkeitsstruktur des Kindes, wie erlebt es die Welt, wie kommt es in der Welt zurecht?
-  Was braucht das Kind, um sich wohl zu fühlen und sich weiter zu entwickeln?
Unser Hauptaugenmerk lag darin, die Erfahrungen der Eltern oder anderer Bezugspersonen aufzugreifen und sie in ihrer Rolle als wichtigste Personen für das Kind zu stärken. Gleichzeitig versuchten wir, in diesen Prozess von unserer Seite Erfahrungen und fachliches Wissen einzubringen, um im Endergebnis zu einem möglichst vertrauensvollen Zusammenwirken zu kommen. Das Spiel mit dem Kind war unser hauptsächliches Aktionsfeld.

Die damalige Schulleitung unterstützte unsere Arbeit nach Kräften, zumal in dieser Zeit im Kollegium auch in anderen Bereichen neue schulische Ansätze verfolgt wurden. So gab es z.B. schon Anfang/Mitte der 70er Jahre umfangreiche Konzeptarbeit für die schulische Förderung mehrfachbehinderter sehgeschädigter Kinder und in deren Folge Einrichtung weiterer sog. „Kleinklassen“, schon damals erste Entwürfe für die Ganztagsschule … man kann sagen: es wehte ein sehr „innovativer Wind“ durch den Borgweg ….

Unser damaliges Angebot an die Familien und ggfls. Tages- oder Vollzeiteinrichtungen umfasste
Regelmäßige Hausbesuche, notgedrungen in großen Abständen, ca. 2 x jährlich, bei Kindern mit Mehrfachbehinderung möglichst 3 – 4 x jährlich, Frühbetreuungsnachmittage im Schulkindergarten der Blinden- und Sehbehindertenschule, möglichst 14-tägig, für die Eltern mit ihren Kindern, Besuche in Kindergärten, anderen Tages- oder Vollzeiteinrichtungen, insbes. bei Kindern mit mehrfacher Behinderung, in unterschiedlicher Frequenz, Veranstaltungen mit spezieller Themensetzung für Eltern und/oder Mitarbeiter, z.B. Ausstellung von Spielen u.a. geeigneten Materialien, Begleitung zu Terminen bei Ärzten, Therapeuten, Behörden etc.,

Erste Fortbildungen und Teilnahme an überregionalen Fachtagungen o.ä., außerdem nach Bedarf
Suche nach Entlastung für die Familien jedweder Art, z.B. Mutter-Kind-Kuren, Entlastungsaufenthalte, so auchSuche nach und Vermittlung von Plätzen in Kindergärten, sonderpädagogischen Einrichtungen etc.,
Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ärzten, Therapeuten, Psychologen, Behördenmitarbeitern u.a.m.




Weiterer Ausbau der Frühbetreuung zur Frühförderung 

Die eigentlich geplante und gewünschte Dokumentation durch Teamsitzungsprotokolle, Entwicklungsberichte, Förderpläne etc. war eher Wunschdenken, die Arbeit „in der ersten Reihe“ schluckte alle Zeit- und Kraftreserven.

Hierzu einige Zahlen aus dem Jahr 1978:

Wir versorgten mittlerweile 74 Kinder im Alter von 6 Monaten bis 16 Jahren, davon 57 aus Hamburg und Randgebieten, 17 aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen, 35 dieser Kinder waren mehrfachbehindert. Da die damals vorhandenen institutionellen sonderpädagogischen Angebote für die stetig steigende Zahl erfasster mehrfachbehinderter sehgeschädigter Kinder und Jugendlicher nicht im Entferntesten ausreichten, haben wir diese Kinder und Jugendlicher sozusagen „notversorgt“.

Es lässt sich sicher nachvollziehen, dass diese neue Realität auch der jetzt sehr engagiert und kreativ tätigen Frühbetreuungsmannschaft Grenzen setzte. Einerseits erkannten wir die Chance auf Umsetzung neuer Akzente und Ideen und nahmen die schon bald deutlich werdende hohe Belastung lange Zeit in Kauf. Da wir seit Beginn der 70er sehr erfolgreich und hochmotiviert arbeiteten, sah die Schulleitung vorerst keinen Anlass, den „Nebenbei“-Status der Frühbetreuung zu verändern. Außerdem waren schon gestellte Anträge auf Kostenübernahme durch die Behörde und somit Verselbstständigung der Frühbetreuung als eigenständige institutionelle Maßnahme mehrfach abschlägig beschieden worden. Irgendwann Ende der 70er waren wir erschöpft. Nachdem wir uns nun endlich vermehrt bei der Schulleitung beklagt hatten und nichts mehr half, entschlossen wir uns, den Dienst zu verweigern und die Arbeit niederzulegen.

Just in diesem Moment kam uns in dieser für alle Beteiligten beklemmenden Situation ein Glückszufall zur Hilfe. Wir erbten!!! Die damalige „Vereinigung der Freunde blinder und sehbehinderter Kinder“ e.V., der sog. „Schulverein“, erhielt eine großzügige Summe, die es ermöglichte, die Frühbetreuung zumindest für eine Anfangsphase auf eigene Füße zu stellen und hauptamtliches Personal einzustellen. Drei Mitglieder des damaligen ehrenamtlichen Teams wurden 1980/1981 fest angestellt, ein Sozialpädagoge kam dazu. Ein großes Haus am Südring 24 konnte gekauft werden, in dem ab 1981 neben fremd genutzten Räumen endlich Platz für die lang ersehnte Geschäftsstelle, Räumlichkeiten für Veranstaltungen und die Lagerung unserer wachsenden Materialsammlung zur Verfügung stand.

Auch das war eine konzeptuelle Überlegung: wir wollten möglichst eigenständig und nicht angekoppelt an die Blinden- und Sehbehindertenschule, wie es mittlerweile häufig in anderen Regionen der Fall war, tätig sein. Für uns war es das „Paradies auf Erden“, unser Ziel war erreicht, wir waren selbstständig!

Das Team vergrößerte sich. Die Kinder aus Schleswig-Holstein wurden bald von eigenen Kräften versorgt. Ich selbst bin nach einer einjährigen Beurlaubungszeit, die mir zum Zwecke der hauptamtlichen Mitarbeit in der Frühbetreuung gewährt wurde, Ende 1981 in den Schuldienst zurückgekehrt.

Die Umbenennung von „Frühbetreuung“ zu „Frühförderung“ erfolgte erst in den 90ern, sie erklärt sich einerseits aus dem Prozess der Anpassung an behördliche Vorgaben, andererseits aus der Einsicht in die Notwendigkeit „spezieller“ Förderangebote, die damals im Überschwang der ganzheitlichen Sichtweise vielleicht doch zu wenig Beachtung fanden.

Es geht mir mit diesem Rückblick weniger um absolute Detail-Genauigkeit, sondern vor allem darum, den damals sich verändernden Zeitgeist einzufangen und deutlich zu machen, dass diese „Pionierzeit“ mit all ihren Veränderungen, Krisen und Weiterentwicklungen bis in die heutige Zeit hineinwirkt und Wegbereiter für die Entstehung des heute gültigen Frühförderungskonzeptes war und ist.


Editha Gombault



40 Jahre Frühförderung - Vorwort

Anfänge der Frühbetreuung

Frühförderung heute auch als Komplexleistung

Frühförderung aus der Sicht der Eltern: Ein Fahrplan für mehr Freiheit

Ausblick

Der Podcast

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